Abschnitte eines seltenen Manuskripts eines christlich-palästinensisch aramäischen (CPA) Lektionars sind nun zum ersten Mal digitalisiert worden. Die beiden Folios, die vorläufig auf das zehnte oder elfte Jahrhundert datiert wurden, entsprechen jeweils dem Buch Micha bzw. Jesaja. Das Manuskript wurde zuerst im Frühjahr 1895 von Agnes Smith Lewis und Margaret Dunlop Gibson erworben, als sie Kairo auf dem Weg zum Berg Sinai besuchten. 1897 transkribierten und veröffentlichten die beiden schottischen Orientalistinnen zusammen das komplette Werk. Nach der Gründung des Westminster College in Cambridge stifteten die Schwestern das Manuskript dem dortigen Archiv, wo es bis heute aufbewahrt wird.
In diesem Manuskript heißt es, und zwar im Buch Micha, Kapitel fünf, Vers fünf: „Und er wird unser Friede sein, wenn die Āsūrāyē (Assyrer) unser Land angreifen und über unsere Festungen hinwegmarschieren.“ Hingegen heißt es im Buch Jesaja, Kapitel zehn, Vers vierundzwanzig: „O mein Volk, das in Zion lebt, fürchte dich nicht vor den Sūrāyē (Assyrern).“ Die Bezeichnung der biblischen Assyrer durch zwei Varianten – Āsūrāyē and Sūrāyē –, die im Gegensatz zu dem normalerweise in klassischen syrischen (CS) Texten auftretenden Āthōrāyē stehen, ist in der Tat bemerkenswert.
Um herauszufinden, ob die beiden Varianten lediglich das Ergebnis eines Schreibfehlers waren, wurden Fragmente von CPA-Palimpsesten aus der Sammlung Taylor-Schechter der Universität von Cambridge miteinander verglichen. Diese vermutlich aus dem fünften oder achten Jahrhundert stammenden Fragmente enthalten Passagen aus dem Buch Jesaja. Auf Grundlage der Fragmente konnten weitere Varianten als Bezeichnung für die biblischen Assyrer identifiziert werden: Sūrāy und Sūryāyē, von denen keine das initiale ʾālap̄h bzw. -a aufweist. Interessanterweise können diese Hinweise unser Verständnis hinsichtlich der symbiotischen Verbindung dieser Bezeichnungen weiterbringen.
Was ist christlich-palästinensisches Aramäisch (CPA)?
Historisch gesehen war CPA ein westaramäischer (WA) Dialekt, der hauptsächlich von chalzedonischen Christen in Palästina und Transjordanien vom fünften bis zum vierzehnten Jahrhundert benutzt wurde. Im Gegensatz zum jüdisch-palästinensischen Aramäisch (JPA) und zum samaritanischen Aramäisch (SA) blieb CPA sowohl auf struktureller als auch auf lexikographischer Ebene frei von hebräischen Einflüssen. Die Expertin Dr. Christa Müller-Kessler ist sogar der Ansicht, dass CPA „viele syntaktische Konstruktionen enthält, die auf griechischen Vorlagen basieren, da CPA keine eigenen literarischen Denkmäler geschaffen hat und, mit Ausnahme von Inschriften, nur als Übersetzung griechischer Literatur überliefert ist“.
Der Autor dieses Artikels, R. Edward, möchte K. Haidari und J. Bethgawro danken und ebenso H. Weller, Archivar am Westminster College, und der Digital Content Unit (DCU) der Cambridge University Library.
Dieser Artikel wurde vom Englischen ins Deutsche übersetzt und ist auf der Website der Assyrian Cultural & Social Youth Association Inc. am 23. Januar 2022 erstveröffentlicht worden.